Ein Interview mit dem Musikwissenschaftler Volker Straebel

Was war das Projekt 'Music for Magnetic Tape'?

Volker Straebel: John Cage hat 1951 ein Funding von dem amerikanischen Architekten Paul Williams erhalten für das Project for Music for Magnetic Tape. Dieses Project diente der Komposition und Realisation von Tonbandmusik. Es gab 1951 in den USA keine Studios für elektronische Musik und es gab auch keine Kompositionstechnik, es gab keine etablierte Musik für dieses völlig neue Medium.

Cage kam in Kontakt mit Louis und Bebe Barron, zwei Amerikanern die erst kürzlich nach New York gekommen waren und dort das erste private Studio für elektronische Musik betrieben.

(..) in diesem Studio wurden mehrere Stücke produziert, nämlich Imaginary Landscape No.5 für 42 Jazz Records und dann Tonbandstücke - von John Cage der Williams Mix, von Christian Wolff Music for Magnetic Tape von Earle Brown Octet I und von Morton Feldman Intersection for Magnetic Tape.

Was war das Revolutionäre an einer Musik die auf (manipulierten) Tonbandaufzeichnungen basierte?

Volker Straebel: Eine Musik die völlig aus manipulierten Tonbandabschnitten besteht, hat das Besondere, dass sie vom Komponisten bis ins kleinste Detail der Klanglichkeit hinein kontrolliert und entsprechend komponiert werden kann. Hat man eine Musik für sagen wir ein Kammermusik-Ensemble, dann schreibt der Komponist eine Partitur, die dann von Musikern interpretiert wird. Im Falle der Tonbandmusik fällt dieses Moment der Aufführung im Moment des Konzertes fort, sondern wir haben eine Arbeit im Studio, wo – in der Regel auch nach einer Partitur – die Musik realisiert wird - auf Tonband - und jedes Detail kann genau im Studio fixiert werden und wird dann im Falle der Aufführung reproduziert.

Es ist nicht ganz so, dass eine Aufführung von Tonbandmusik keine performativen Aspekte hätte, insofern als dass natürlich jeder Raum anders klingt, jede Aufführungssituation ein bisschen anders ist, aber grundsätzlich fällt das Moment von Unikat und Reproduktion im Falle von Tonbandmusik zusammen, wohingegen bei der Aufführung von instrumentaler Musik wir immer die Situation haben, dass es eine Abweichung gibt der tatsächlichen Aufführung im Verhältnis zur Komposition.

Es gibt also ein Moment wo man sagen kann: 'Alle Aufführungen haben etwas gemein, dieses Gemeine wird wohl die Komposition sein.' Dieses ist dann in der Partitur fixiert, aber alle Aufführungen weichen wesentlich voneinander ab.

Ist das eine Stärkung des Begriffs der Autorenschaft in der Tape Music?

Volker Straebel: Es ist eine Illusion der frühen Komponisten elektronischer Musik, dass sie als Autor stärker präsent wären als im Falle von Instrumentalmusik. Es ist zwar durchaus so, dass der Komponist eine größere Kontrolle hat über die einzelnen Parameter des Musikwerkes, aber es kann durchaus sein, dass er selber gar nicht das Stück im Studio realisiert.

Im Falle von 'For Magnetic Tape' von Christian Wolff zum Beispiel wurde die Partitur von ihm schriftlich fixiert und dann nach New York geschickt wo sie eben von Earle Brown und John Cage im Studio realisiert wurde und Christian selber war kaum im Studio zugegen. Wir haben da also wieder einen Interpretationsprozess in dem diejenigen, die im Studio die Realisation durchführen, die Partitur interpretieren und der Autor – wie in der traditionellen Musik auch – der Autor des Werkes und der Partitur ist.

Was sind die Unterschiede der amerikanischen Schule zur musique concrète?

Volker Straebel: Die amerikanische Music for Magnetic Tape unterscheidet sich wesentlich von der musique concrète aus Paris, insofern als dass die musique concrète grundsätzlich von Aufnahmen natürlicher Klänge ausgeht, wohingegen die Music for Magnetic Tape durchaus auch elektronische Klänge enthalten kann.

Es kommt außerdem hinzu, dass die musique concrète von Experimenten von Pierre Schaeffer mit Wachsschallplatten 1948 und die Music for Magnetic Tape grundsätzlich immer schon auf Tonband gearbeitet hat. Dadurch sind bestimmte Verfahrensweisen im Studio immer schon andere gewesen. Die Tendenz zur Schleifenbildung, zum Loop, die sich aus der Aufnahme in einer Endlosrille ergab ist in der Music for Magnetic Tape nicht so präsent.

Wer war Earle Brown?

Volker Straebel: Earle Brown kam ursprünglich aus der Jazz Musik und hatte im sogenannten Schillinger-System Komposition studiert und später auch unterrichtet. Das Schillinger-System geht zurück auf Joseph Schillinger der Komposition auf mathematische Prozesse basiert und bestimmte mathematische Strukturen als grundlegend für jegliche Kunst ansieht, wo also die Musik nur eine Ausprägung von ist.

Earle Brown kam im Rahmen eines Konzertbesuches von Cage und Tudor in Denver mit Cage in Kontakt und war von dieser Begegnung so beeindruckt, dass er sich entschied nach New York zu ziehen und kam dann 1951 nach New York und war sofort in dem Kreis von Cage integriert und hat auch – zusammen mit Tudor – Cage wesentlich assistiert, bei der Erstellung dieser Tonbandstücke im Project for Magnetic Tape.

Inwieweit hat die zeitgenössische Avantgarde die Arbeit von Earle Brown beeinflusst?

Volker Straebel: Earle Brown war stark beeinflusst von den Mobiles von Alexander Calder. Calder hatte ja angefangen kinetische Strukturen zu entwickeln oder hatte angefangen kinetische Momente in die Bildende Kunst zu integrieren und dieses Phänomen, dass ein Objekt nicht mehr statisch ist, sondern mit sich selbst identisch bleibt, in seinen verschiedenen Veränderungen, seinen Bewegungen, interessierte Earle Brown sehr. Er hat später dieses Phänomen in seiner Kompositionsform der Mobilen Form aufgegriffen. Er hat also Partituren geschrieben, in denen einzelne Abschnitte in jeder Aufführung in eine andere Reihenfolge gebracht werden können, so dass es also ein bestimmtes Moment von Indeterminiertheit in der Aufführung gibt.

Können Sie die Besonderheiten der Kompositionstechnik von Earle Brown beschreiben?

Volker Straebel: Im Werk von Earle Brown sind die beiden Tonbandstücke Octet I und Octet II singulär geblieben, es gibt sonst keine reine Tonbandmusik. Genauso wie bei Morton Feldman, so dass man also sagen kann, dass diese Anregung von Cage Musik für Tonband zu entwerfen von den Komponisten aufgenommen worden ist, aber nicht notwendigerweise in einen Strang ihres Oeuvres geführt hat.

Es gibt von Earle Brown spätere Stücke, die mit Tonband-Zuspielungen arbeiten, bei denen es also eine Verschiebung gibt von der Live-Aufführung und der Situation eines Tonbandstückes.
Man kann sagen, dass Earle Brown sich nicht wesentlich interessiert hat für die Vorstellung einer interpretenlosen, fixierten, von ihm vollständig kontrollierten Musik. Er war viel zu sehr von dem Gestus von Jazz-Improvisation geprägt. Es ist aber zu bedenken, dass in Falle der Komposition von Octet I und Octet II bestimmte Zufallselemente Bedeutung haben, so dass es also aus der Perspektive des Komponisten durchaus einen Grad von Freiheit oder Unvorhersehbarkeit gibt.

Wenn statistische Prozesse in der Kompositionsprozess integriert werden, hat der Komponist die Möglichkeit eine globale Form zu konzipieren, die dann aber im Detail sich seiner Kontrolle oder vorhergehenden Kontrolle und seinem Geschmacksurteil entzieht und das ist bei Octet II so gegeben. Es ist in einer sehr extremen Form so gegeben, insofern als dass ja nur ein bestimmter Katalog von verschiedenen Klangkategorien vorgegeben ist und gar nicht im Detail angegeben wird welcher Klang an welcher Stelle erscheinen soll

Was waren Ihre Gründe das Stück 'Octet II' von Earle Brown zu realisieren? Wie sind Sie dabei vorgegangen?

Volker Straebel: Ich habe Earle Brown 1995 zu einem Interview getroffen in Zusammenhang mit einem Forschungsprojekt zur frühen Geschichte der elektroakustischen Musik für Aufzeichnungsmedien in den USA. Ich kannte die Stücke des Project for Music for Magnetic Tape und sprach ihn an auf das Stück Octet II, das im Werkverzeichnis zwar auftritt aber als Realisation nicht bekannt war. Er erwähnte in diesem Gespräch, dass die Partitur vollständig vorhanden wäre und dass er zur damaligen Zeit keine Möglichkeit hatte, das Stück zu realisieren, dass es nie realisiert worden ist und dass es aber grundsätzlich möglich wäre es heute – auch mit neuen technischen Medien - zu realisieren.

Die Partitur von Octet II ist eine Folge von großformatigen Zehntel-Inch Papierblättern auf denen mit verschiedenen Farben Linien gezeichnet sind, die angeben wann einzelne Klänge auf den acht verschiedenen Kanälen einsetzen und wieder aufhören. Im Bereich der Skizzen habe ich eine Tabelle gefunden, die die sieben verschiedenen Farben aufschlüsselt und zwar nach den Kategorien a, b, c, d, e, f und einer Kategorie x. Die Kategorien a bis f bezeichnen offensichtlich die sechs Klangkategorien die John Cage im Williams Mix verwendet hat. Die Kategorie x ist in den Skizzen ausgedeutet als eine sehr kurzgliedrige Folge von kurzen Schnitten, also eine kleingliedrige Folge von Schnitten unterschiedlichen Klangmaterials.

Bei den übrigen Kategorien handelt es sich um City Sounds, Landscape Sounds, Electronic Sounds, Manually Produced Sounds (including Music), Wind Sounds (including Song) und Small Sounds, also kleine Klänge die verstärkt werden müssen um gehört zu werden.

Inwieweit waren die Orte an denen Sie die Aufzeichnungen gemacht haben wichtig für die Realisation?

Volker Straebel: Für die Realisation musste ich natürlich entscheiden, welche Art von Klängen ich benutze. Wenn die Kategorie heißt 'Klänge aus der Stadt', war die Frage: 'Wo bekommt man Stadtklänge her?' oder 'Welche Art von Klängen soll ich verwenden?'. Ich habe in dem Fall mich einfach auf die Stadt New York bezogen und habe am Union Square und in der Subway Aufnahmen gemacht. Im Falle der Landscape Sounds habe ich mich auf die Wohnsituation von Earle Brown bezogen – er ist in den Sechziger Jahren aufs Land gezogen, in die Nähe von New York nach Rye – und hat dort ein wunderbares, kleines Haus gehabt am Wasser und dann habe ich dort Tonaufnahmen gemacht, in denen man auch, wenn man Glück hat, Stellen hört an denen Calder-Mobiles klicken, dass sind also kleine Mobiles die Calder ihm geschenkt hat.

Was macht für Sie die Faszination von Tape Music aus?

Volker Straebel: Im Falle dieser Stücke des Project for Music for Magnetic Tape haben wir die Situation, dass Klänge aufgenommen werden die aus ihrem Kontext heraus gelöst werden und dann in den neuen Kontext der musikalischen Komposition überführt werden, ohne dass diese Referenz explizit komponiert ist. Im Falle der musique concrète ist es so, dass Schaeffer meinetwegen gesagt hat, er möchte Aufnahmen von Eisenbahnen haben und hat dann natürlich diese Eisenbahn-Assoziation im Stück.

Im Falle der Tape Music gibt es diese Referenz nicht als (...) Komponistenintention, sondern sie ergibt sich zwangsläufig aus dem verwendeten Material.

Da wir es mit einer extremen Cut-Up-Ästhetik zu tun haben, also sehr, sehr kurze Schnitte aufeinander folgen, ist es in der Regel kaum möglich das Material zuzuordnen. Also man hört Klänge, hat aber kaum die Zeit sie zu deuten und entsprechend zu interpretieren, erst recht nicht, wenn man sich überlegt, dass wir bis zu acht Spuren gleichzeitig haben, in denen durchaus auch mehrere Schichten gleichzeitig ablaufen können, so dass wir also als Hörer immer mit der Situation einer steten Überforderung konfrontiert sind.

(…) es gibt ein Moment des Verlustes der Referenz des Klanges hin zu einer Bedeutung. Der Klang wird aus dem Kontext seines normalen Umfeldes heraus gelöst, wird durch die extreme Cut-Up-Ästhetik von Octet II so kleingliedrig aufgeteilt, dass er gar nicht mehr dechiffriert werden kann, als Zeichen für Irgendetwas was außerhalb dieses Musikwerkes existiert.

Was ist ein Sample?

Volker Straebel: Der Begriff des Samples ist in dreifacher Hinsicht zu verstehen: Einerseits in technischer Hinsicht als die kurze Abmessung einer Intensität eines Tonverlaufes, dann im musikalisch-technischen Prozess als ein kurzer Ausschnitt aus einem Klangverlauf, den ich digital bearbeiten kann – insbesondere in seiner Geschwindigkeit und Tonhöhe – und drittens als ein kultureller Begriff für die Herauslösung von bestimmten Elementen aus ihrem Kontext und ihre neue Anverwandlung in einem Kunstwerk. (…) das Herauslösen einer Wahrnehmungsentität und ihre Wiederverwendung in einem künstlerischen Zusammenhang.

Gibt es für Sie einen Unterschied zwischen einem visuellen und einem musikalischen Sample?

Volker Straebel: Der wesentliche Unterschied zwischen visuellen und akustischen Samples besteht im Phänomen der Dauer. Während ein visuelles Sample praktisch ohne Zeit sein kann – als statisches Bild – bedarf das akustische Sample stets der Zeit und wird auch durch sein Abspielen in der Zeit erfahrbar.

Welche Techniken der Verfremdung und Bearbeitung von Tape Recordings gibt es?

Volker Straebel: Im analogen Studio kann man rein auf der Ebene des Tonbands die Klänge in ihrer Geschwindigkeit verändern, in ihrer Tonhöhe verändern und in der Richtung ihres Abspielens, man kann sie also rückwärts spielen. Man kann darüber hinaus Schleifen bilden und man kann Klänge schneiden.

Dadurch dass man den Klängen ihren Ein- oder Ausschwingvorgang abschneidet, werden die Klanggestalten abstrahiert. Es ist um den Bezug herzustellen woher ein Klang eigentlich kommt sehr wesentlich den Einschwingvorgang hören zu können. Wenn ich einen Klavierton habe und den Einschwingvorgang abschneide, habe ich ein Problem zu verstehen, dass es sich um einen Klavierton handelt beispielsweise.

Es gibt außerdem die Möglichkeit ein Tape Echo zu generieren, indem ich also den Ausgang eines Tonbandgerätes und einer Tonbandschleife mit dem Eingang eines Tonbandgerätes koppele und dadurch ein Echo, ein Feedback-Loop, erzeuge.

Wie beurteilen Sie die Verwendung von Avantgardetechniken in der modernen Popmusik? Ist es Weiterentwicklung, bloße Wiederholung oder gar Banalisierung?

Volker Straebel: Wenn Sampletechniken die von der Avantgarde entwickelt worden sind in der Populärmusik verwendet werden, handelt es sich letztlich um eine Art von Kreolisierung von Avantgardetechniken. Das heißt eine Technik die entwickelt worden ist, ist jetzt ubiquitär, sie ist allgemein zugänglich und wird dann entsprechen in einem anderen kulturellen, in einem anderen musikalischen Kontext verwendet, hat aber nicht mehr die Bedeutung. Die Technik ist ein Verfahren und nicht mehr ein Gegenstand der Komposition.

Die Populärmusik interpretiert das Verfahren von Sampling völlig anders als es in der klassischen Avantgarde verwendet worden ist und damit ist es eine künstlerische Anverwandlung einer Kulturtechnik. Und wir haben dann in der Populärkultur eine doppelte Ebene von Anverwandlung, von Sampling. Einerseits als historischer Rekurs auf Avantgardetechnik und andererseits als Verfahren zur Anverwandlung des Gesampleten.

Ich habe den Eindruck, dass es einen Hörerkreis gibt, der geneigt ist Musik und insbesondere populäre Musik so zu rezipieren, dass die Musik verwendet wird als eine Art von auslösendem Moment für die Erinnerung der Zeit in der diese Musik in den Medien präsent war: Ich erinnere mich an eine Liebe die ich immer Sommer 1992 hatte, weil ich im Radio den Song von 1992 höre. Und damit wird der Song zu einer Art Sample zweiter Ordnung, insofern als dass die Verweisstruktur nicht mehr mit etwas verbunden ist was in dem Song selbst angelegt ist, sondern der Song verweist auf etwas was ich mit dem Song in meiner Biografie verbinde.